Moria: Humanitäre Katastrophe in Europa

Pressekonferenz mit Landesrat Stefan Kaineder, Dr.in Judith (Kohlenberger Wirtschaftsuniversität Wien) und Nicole Sonnleitner (ZusammenHelfen in Oberösterreich)

zum Thema

Moria: Humanitäre Katastrophe in Europa – Oberösterreich hat Platz, Menschlichkeit und Expertise, um bei der Bewältigung der Krise zu helfen – Aktuelle Infos zur Grundversorgung in OÖ

„Täglich erreichen uns schreckliche Bilder aus Lesbos. Als Vater von drei Kindern ist die Vorstellung, dass rund um das ehemalige Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos, hunderte Familien mit ihren Kindern am Straßenrand eisige Nächte verbringen müssen, fast unerträglich. Auf europäischem Boden sollte niemand seine Kinder auf nacktem Asphalt in den Schlaf wiegen müssen. Manchmal scheint es, als würden auf dem Rücken von Minderjährigen politische Grabenkämpfe ausgetragen. Das entspricht aber weder dem europäischen Gedanken noch einer christlich-sozialen Grundeinstellung, derer sich viele in Europa rühmen. Seitens der Grundversorgung des Landes OÖ haben wir freie Kapazitäten, um den schon in die Europäische Union geflüchteten Menschen – vor allem besonders Schutzbedürftigen – eine sichere Unterkunft zu bieten. Damit wir unsere vorhandenen Ressourcen zur Verfügung stellen können, braucht es endlich entsprechende Entscheidungen“, kritisiert Landesrat Stefan Kaineder.

Unzählige oberösterreichische Gemeinden, darunter auch ÖVP-geführte Gemeinden, haben in den letzten Monaten bereits Resolutionen an die Bundesregierung verabschiedet, in denen klargelegt wird, dass sie zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind und forderten die Regierung darin auf, bei der Lösung der inhumanen Zustände in den griechischen Lagern zu helfen. Nach der erfreulichen massiven Aufstockung von Hilfsgeldern fordert Landesrat Kaineder nun ein Ende der Blockade bei Teilen der Bundesregierung. Das würde die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und traumatisierten Familien ermöglichen, die eingesperrt auf der griechischen Insel Lesbos ihr Dasein fristen müssen.

Landesrat Stefan Kaineder befindet, dass Hilfe vor Ort zweifellos gut und wichtig ist, aber sie schließt eine gleichzeitige Hilfe in humanitären Notsituationen keinesfalls aus. „Die Bedingungen vor Ort auf der Insel Lesbos sind von Beginn an schlicht nicht für so viele Menschen ausgerichtet gewesen – ein Umstand, der bereits lange bekannt ist und von einigen aus politischem Kalkül hingenommen wurde. Viele Expertinnen und Experten sowie Berichterstatterinnen und -erstatter vor Ort warnen seit Tagen davor, das auch mit Hilfsgütern, die hingeschickt werden, eine menschenwürdige Unterkunft und Versorgung nicht rasch genug erfolgen kann,“ so Landesrat Stefan Kaineder, der kritisiert, dass in vielen europäischen Ländern, so auch in Österreich und Oberösterreich genügend Kapazitäten, Infrastruktur und Strukturen vorhanden sind , um jetzt in dieser Notlage zu helfen.

Zu den Strukturen in Oberösterreich zählen neben konkreten Grundversorgungsplätzen und einem breiten Deutschkursangebot für geflüchtete Menschen auch ein starkes Netzwerk im Integrationsbereich, so wie die Oö. Steuerungsgruppe für Grundversorgung und Integration. Sie wird von Landesrat Kaineder geleitet und setzt sich unter anderem aus Vertreterinnen und Vertretern der Landes-Fachdienststellen, der Bezirkshauptmannschaften, NGOs, ReKIs, ZusammenHelfen, des AMS, der Bildungsdirektion, des ÖIF, der Statutarstädte Linz, Wels und Steyr sowie der Exekutive zusammen. In Anlehnung an die Landessteuerungsgruppe gibt es auch Bezirks- und Gemeindesteuerungsgruppen, die sich nach Bedarf mit unterschiedlichen Themenbereichen des Zusammenlebens beschäftigen und rasch Lösungsansätze entwickeln können.

„In den letzten fünf Jahren haben wir in Oberösterreich Gewaltiges geleistet und gezeigt, dass unser Zusammenleben gut funktioniert“, so Landesrat Stefan Kaineder, der den tausenden Ehrenamtlichen, hauptamtlich Engagierten, caritativen Organisationen, Gemeinden, Vereinen, Schulen sowie Bildungsinstitutionen herzlich danken möchte. Gemeinsam mit den Gemeinden und der engagierten Beamtenschaft konnten zehntausende Menschen gut organisiert untergebracht werden. Tausenden Kinder und Jugendliche wurden von Beginn an, vor allem in den Kindergärten und Schulen, in unsere Gesellschaft integriert.

Landesrat Stefan Kaineder: „Gerade Oberösterreich hat seine Hausaufgaben seit 2015 gemacht und ist mit den umfangreichen Maßnahmen zur Integration geflüchteter Menschen Vorreiter. Wir können jetzt nicht wegsehen, nachdem eine humanitäre Katastrophe auf europäischen Boden da ist, die sich lange angebahnt hat. Jetzt sind vor allem der Bundeskanzler und der Innenminister am Zug, damit wir unserer menschlich-moralischen Verpflichtung der Aufnahme nachkommen können. Dass dies zuletzt auch kirchliche Vertreter und große Teile der Zivilgesellschaft eingefordert haben zeigt, dass wir in OÖ auch bei dieser Herausforderung zusammenhalten werden. Zusammenhalten wenn es drauf ankommt – das können wir und haben dies schon oft gezeigt.“

Entwicklung Zahlen Grundversorgung ab 2015

Die Zahlen in der untenstehenden Tabelle zeigen ein eindeutiges Bild. Mit Einsetzen der Fluchtbewegung 2015 sind die Zahlen an Grundversorgungsbezieherinnen und –bezieher bis 2016 stark angestiegen. Seit 2016 hat sich aber eine kontinuierliche Bewegung nach unten manifestiert. Das ist einerseits mit dem Beschleunigen von Asylverfahren, vor allem für Flüchtlinge aus bestimmten Herkunftsländern, zu erklären, andererseits auf Rückführungen nach abgelehntem Asylbescheid und sinkenden Antragszahlen zurückzuführen:

728 Freie Quartiersplätze in den Bezirken Oberösterreichs

Obwohl die Zahl der Grundversorgten seit 2016 rückläufig ist, werden freie Quartiersplätze freigehalten, um im Fall der Fälle gerüstet zu sein. In allen Bezirken ausgenommen Freistadt und Grieskirchen sind Betten frei, um zum Beispiel Familien und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ein menschenwürdiges Asylverfahren zu ermöglichen:

Mit Stand 25. September 2020 werden in Oberösterreich 3.641 Personen (3.435 [davon 86 UMF] in der Landes- und 206 in der Bundesgrundversorgung) grundversorgt. Von den landesgrundversorgten Personen sind wiederum 2.064 organisiert und 1.371 privat untergebracht.

Dr.in Judith Kohlenberger

Wie gelingen die Integration und das Zusammenleben mit Geflüchteten?

Seit 2015 ist viel gelungen: Trotz Coronakrise schreitet die Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen kontinuierlich voran, auch wenn Spracherwerb, Weiterbildung und die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen viel Zeit beanspruchen. Als Systemerhalter*innen in der Erntehilfe, im Lebensmittelhandel und als Reinigungs- und Pflegekräfte leisten nun viele Geflüchtete einen wichtigen Beitrag dazu, dass unser Land gesund durch die Pandemie kommt. Im Bildungsbereich zeigt sich, dass ein Großteil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen bereits wenige Jahre nach Ankunft ins Regelschulsystem wechseln konnte – der Anteil außerordentlicher Schüler*innen lag schon im Schuljahr 2018/19 bei unter 40%.  Gerade in ländlichen Gebieten ist der Austausch zwischen Neuankommenden und Alteingesessen rege und die heimische Zivilbevölkerung weiterhin stark.

Das spiegeln auch die regelmäßigen Integrationsmonitore wieder: Die Mehrheit der Befragten bewertet das Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten in Oberösterreich als „gut“ oder „sehr gut“, in der eigenen Gemeinde wird es sogar noch positiver wahrgenommen. Auch im aktuellen Integrationsbericht gibt die Mehrheit der Österreicher*innen an, dass die Integration in unserem Land fünf Jahre nach der großen Fluchtbewegung gut funktioniere.

Was aber rückblickend auf 2015 nicht ideal verlief, war die Art und Weise, wie Geflüchtete unter teils dramatischen Bedingungen, in chaotischer, ungeregelter Form nach Österreich kamen. Solche Szenen gilt es für die Sicherheit der Betroffenen und des Aufnahmelandes zu verhindern, und genau das haben wir nun in der Hand: Wenn wir jetzt handeln, können wir dafür sorgen, dass Kinder, Frauen und Männer von den griechischen Inseln in geordneter, koordinierter Form aufgenommen werden. Wir können kontrollieren, wer aufgenommen wird, wir können Schutzbedürftigkeit feststellen und Identitäten registrieren, wir können punktgenau nachverfolgen, wo diese Menschen untergebracht werden, wer für sie verantwortlich ist, wie ihre Aufnahme in Oberösterreich und darüber hinaus strukturiert abläuft. Das wäre effektive Hilfe mit Herz, aber auch mit Hirn, um endlich Ordnung und Sicherheit für alle zu schaffen.

Nicole Sonnleitner

Freiwilligenengagement ist Fundament für gutes Zusammenleben in OÖ

Bereits 2015 haben unzählige Freiwillige in ganz Oberösterreich bewiesen, dass sie sofort anpacken und zur Stelle sind, wenn es um die Hilfe für geflüchtete Menschen geht.

Zur Unterstützung dieser vielen freiwillig Engagierten, die sich für geflüchtete Menschen engagieren, wurde die Anlaufstelle ZusammenHelfen in Oberösterreich initiiert. Mittels Infotelefon für allgemeine und auch für rechtliche Fragen sowie gezielte Informationen und Öffentlichkeitsarbeit – online und durch Veranstaltungen – werden Freiwillige in ihrem Tun begleitet. Die enge Zusammenarbeit und der regelmäßige Austausch mit oberösterreichischen, aber auch österreichweit agierenden Initiativen, ermöglicht es ZusammenHelfen in Oberösterreich, durch eine umfassende Vernetzung und regelmäßigem Austausch, rasch und effizient helfen zu können.

Aus einer Freiwilligenbefragung vom Jänner 2020, die von ZusammenHelfen in Oberösterreich durchgeführt wurde, lassen sich ganz klar Erkenntnisse ableiten, welche auch im Hinblick auf die Aufnahme von Geflüchteten aus Moria aussagekräftig sind. An dieser Befragung haben 352 Freiwillige sowie 49 Initiativen und Vereine teilgenommen.

Einige freiwillig Engagierte von 2015 haben ihr Engagement in den letzten Jahren wieder aufgegeben – die Befragung zeigte aber deutlich, dass die beiden Hauptgründe für eine Beendigung des Engagements keineswegs Unzufriedenheit oder schwindendes Interesse waren, sondern dass durch Quartiersschließungen und zunehmender Selbstständigkeit der Geflüchteten die Unterstützung durch Freiwillige nicht mehr oder nicht mehr in dem ursprünglichen Ausmaß nötig war. Das bedeutet, dass diese freiwillig Engagierten erneut tätig werden würden.

Freiwilliges Engagement wirkt sich nicht nur positiv auf die geflüchteten Menschen aus, die davon in erster Linie profitieren, sondern auch auf die freiwillig Engagierten selbst und in weiterer Folge auf die Gesellschaft. Die Befragung zeigt beispielsweise, dass die Freiwilligen die Zufriedenheit mit ihrem freiwilligen Engagement fast ausnahmslos positiv (98 Prozent der Befragten) bewerteten.

Gerade freiwillig Engagierte berichten immer wieder darüber, was geflüchtete Menschen leisten und wie gerne sie etwas zurückgeben wollen. Hilfe in Sozialmärkten, Besuche in Altenheimen und Mitarbeit bei „Essen auf Rädern“ sind nur ein paar Beispiele dafür, wie sich diese Menschen mittels freiwilligem Engagement in unsere Gesellschaft einbringen und damit einen wichtigen Beitrag leisten. Besonders stark sichtbar wurde dieser Einsatz für die oberösterreichische Gesellschaft  auch im Zuge des Lockdowns. Viele Geflüchtete nahmen diese Gelegenheiten wahr und erledigten Besorgungsdienste, nähten Masken oder vermittelten Informationen über Corona in deren jeweiliger Geburtssprache.

Nicht selten mündet dieses Engagement in einer engen Freundschaft. Das freiwillige Engagement wird so nicht mehr zur Aufgabe, sondern zum „Freundschaftsdienst“ und wirkt sich wiederrum positiv auf beide Seiten und somit auf die gesamte Gesellschaft aus. Bei Zahra und Barbara war es ähnlich:

© Land OÖ

„Zahra und ich lernten uns im November 2015 kennen. Zahra kam mit ihrem Ehemann Ali und ihren beiden Kindern nach Österreich. Zahra war von Beginn an für mich eine Powerfrau und sie liebte ihre Freiheit in Österreich. Zahra durchlebte sehr schwere Zeiten in ihrer Beziehung mit Ali. Sie erfreute sich so am Leben in Österreich und ihren Freiheiten. Für ihren Ehemann ging das aber alles zu schnell. Ali ist zwar ein sehr fortschrittlicher Mann, aber Zahra entwickelte sich so schnell und Ali begriff die Veränderung seiner Frau nicht. Das war für Zahra sehr schmerzhaft.

Darüber haben Zahra und ich stundenlange Gespräche geführt und das war auch der Beginn unserer sehr intensiven Freundschaft. Wir führten sehr intime Gespräche über ihre Ehe, Partnerschaft, Familie und über Zahra persönlich. Als ich 2016 sehr schwer erkrankte, war Zahra immer an meiner Seite. Sie tröstete mich und gab mir Kraft für den schwierigen Weg, der noch vor mir lag.

Zahra lebt ihre Rechte in Österreich und ich bin so stolz auf sie. Sie spricht auf Kundgebungen über die Situation der Frauen in Afghanistan und organisiert eigenständig Veranstaltungen mit Frauen und für Frauen. Sie arbeitet intensiv daran, die Menschen in Österreich davon zu überzeugen, dass afghanischen Frauen sich in Österreich integrieren wollen, ob mit Kopftuch oder ohne Kopftuch.

Zurzeit darf ich Zahra auf ihrem schwierigen Weg durch das Asylverfahren begleiten. Sie ist oft sehr entmutigt, weil es schon so lange dauert und wir reden oft über ihre prekäre Situation. Das macht mich auch sehr traurig, da ich Zahra nicht verlieren möchte. Ein Leben ohne Zahra kann ich mir nicht mehr vorstellen. Ich bin so stolz auf meine Freundin Zahra, wie sie ihr Leben mit allen Höhe- und Tiefpunkten schafft. Sobald sie einen Aufenthaltstitel hat kann Zahra beruflich so richtig durchstarten, was sie sich so sehr wünscht. Denn Zahra war in Afghanistan Hebamme und diesen Beruf möchte sie in Österreich auch wieder ausüben. Ein weiterer Gewinn für Österreich, weil Hebammen in Österreich dringend gebraucht werden.“